Gedanken
Ich war gerade einmal 22 Jahre alt, als ein Kletterabsturz mein Leben von Grund auf veränderte. Langsam erholte ich mich von den schweren Verletzungen am Becken, kämpfte mich aus dem Rollstuhl und konnte schließlich auch mein Studium der Sportwissenschaften an der Uni Wien beenden.
Einzig die Schmerzen am linken Sprunggelenk blieben und verstärkten sich zusehends. Die einstimmige Meinung der Ärzte: Arthrose letzten Grades. Lösungsvorschlag: Versteifung des Sprunggelenks. Mit 22??? Das wollte ich nicht. Auf der Suche nach einer alternativen Möglichkeit, stieß ich auf die chinesische Medizin, die wahre Wunder zu vollbringen schien. Also- nichts wie weg!
In Peking angekommen, lebte ich anfangs in der Wohnung eines entfernten Bekannten. In einer Zeit ohne Internet, war der Unterschied unserer Kulturen wie eine Welle, die mich überrollte, und wirklich verängstigte. Ich fühlte mich absolut nicht wohl in der stinkenden Großstadt, in der ein einzelner Mensch so wenig zählt. Ich war einsam unter Vielen, wie ein Riese unter Zwergen. Hinter meinen hellen Augen vermutete man böse Geister, die Chinesen sind ein abergläubisches Volk. Nur einige Wenige waren dem Westen gegenüber aufgeschlossen und hilfsbereit. So spielte mir auch eher der Zufall die Adresse eines Zentrums im gebirgigen Hinterland der Provinz Qingdao in die Hände, wo man chinesische Bewegungstechniken unterrichtete. Damit konnte man angeblich alles heilen…
Dort angekommen stand ich mehr denn je vor dem Problem der Verständigung. Englisch, Deutsch? Fehlanzeige. Mein Chinesisch war immer noch am Nullpunkt. Also…Gesten, Laute, Bewegungen.
Sui QingBo, ein chinesischer Arzt, Leiter des Zentrums, und seine Frau Lena, heute würde ich sagen, Physiotherapeutin, unterrichteten dort eine kleine Gruppe Reisender aus aller Welt.
Auf einem malerischen Sandplatz unter hohen Bäumen, kämpfte ich anfangs mehr mit mir selbst, als mit den Bewegungen. Der Lebensrhythmus stand in starkem Kontrast zu all dem, was ich bisher gewohnt war.
Aufstehen mit Sonnenaufgang, direkt auf den Übungsplatz- kein sanftes Erwachen. Spätes Frühstück, wieder Üben, Mittagessen. Dann kam das Schlimmste: Die Ruhe, wirklich nichts tun- bis zum späten Nachmittag. Gefangen im Steinhaus, in einem netten kleinen Areal mitten in den Bergen, wo die Straße endet. Seltsame Menschen um mich, alle ruhten, nur ich war wach; umrundete die Umgebung wie ein eingesperrtes Tier, nicht unbemerkt von den wachsamen Augen QingBos.
Es sei wichtig das Qi zu pflegen, verdeutlichte er mir, sich selbst zu begegnen. Dazu müsse man nicht schlafen, besser ruhen, in Harmonie mit sich selbst. Damit ließ er mich ratlos zurück…Hätte ich gekonnt- ich hätte die Flucht ergriffen. Da ich aber kein Geld mehr hatte, und meinen Aufenthalt von Österreich aus bezahlen durfte, war ich nur hier oben sicher. Gezwungen, mich mit den Umständen abzufinden.
Auch die Übungen waren anfangs befremdlich für mich. In ihrer Langsamkeit, Genauigkeit, Tiefe. Anstrengend erst auf den zweiten Blick. Je länger ich mich mit einer Übung beschäftigte, desto schwieriger wurde sie.
Jede Bewegung im QiGong verbindet Körper, Geist und Seele. Sie kommt tief aus dem Inneren, immer im Austausch mit einem großen Kosmos. Jedes auch noch so kleine Gelenk wird in den Ablauf mit einbezogen. Je mehr man sich darauf einlässt, desto komplexer wird die Bewegung.
Ich kann heute nicht mehr genau sagen wann oder wodurch der Funke übergesprungen ist. Nach einiger Zeit habe ich gespürt, dass ich das hier zu Ende bringen muss. Bis zu einem Punkt, an dem ich das Gefühl hätte, etwas für mich mit nach Hause zu nehmen, das mir auf irgendeine Art und Weise weiterhelfen würde.
Ich lernte, dass es unendlich viele Formen von Qi Gong gibt, nicht nur die 18 Grundübungen, die uns schon seit Wochen beschäftigten. Ziel dieser, in der Grobform simpel im Stehen durchgeführten Übungen ist es, den Qifluss im Körper zu aktivieren. Das Tempo reguliert sich durch die Atmung, der Fokus liegt auf der Körpermitte, die Bewegung breitet sich aus, bezieht die Umgebung mit ein. Heute verwende ich das Qi Gong sehr gerne als meditative Bewegungsform.
Man lernt sich zu erden, den Herzschlag zu fühlen, und irgendwann wird auch der Qifluss spürbar. Diese Dinge nimmt man mit in den Alltag, setzt sie ein, ohne es zu merken.
Qi Gong wird in China von Kindesbeinen an unterrichtet und findet zu festgesetzten Tageszeiten statt. Wie zum Beispiel bei Sonnenauf- und Untergang, da es den dabei einsetzenden Zustand des Erwachens und Beruhigens unterstützt. Die Chinesen sind ein strebsames, emsiges Volk, die Jugend hat mit Tradition nichts mehr am Hut. Das gemeinsame Üben im Park, zu diesen festgesetzten Zeiten, vereint jedoch alle Generationen; gehört zum täglichen Leben dazu, wie essen oder schlafen.
Meine Zeit in China sehe ich heute als Abenteuer, erst viel später wurde mir bewusst, wie viel ich davon profitiert habe.
Den Körper so deutlich wahrnehmen zu können, Energie zu leiten, in der Bewegung Ruhe finden- das ist nicht selbstverständlich.
Zu Hause habe ich die einzelnen Bewegungen im Ablauf adaptiert, entdecke aber bis heute immer neue Facetten. Die individuell unterschiedliche Ausführung ist mir wichtig. Sie ist Ausdruck der Persönlichkeit.
In meiner Arbeit finde ich durch das QiGong einen sehr tiefen Zugang zu den Klienten.
Ich denke ich bin ruhiger geworden, mehr in meiner Mitte. Nicht nur durch das Qi Gong- ganz sicher aber auch dadurch. Ich habe gelernt mich als Mittelpunkt meiner eigenen Welt zu sehen, im ständigen Austausch mit der Umgebung. Still zu stehen gibt mir die Möglichkeit die Richtung bewusst auszuwählen.
Nennen wir es Qi, Energie oder Lebensfreude- ganz egal. Es ist kein Zauber, nicht das Privileg fernöstlicher Kultur. Jeder Mensch, der sich spürt und gelernt hat zu sehen was ihm hilft oder schadet, kann sich bis zu einem gewissen Grad selbst heilen. So wie wir hier Kräuter nutzen, Bewegung, oder vielleicht auch bewusst gelenkte Aufmerksamkeit, so setzt der Chinese Akupunktur, Qi Gong oder eben auch die Kräutermedizin ein. Er ist in dieser Welt groß geworden, versteht sie, und kann damit arbeiten. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch für uns nutzbar, doch im Krankheitsfall vielleicht nicht immer leicht erlernbar.
Qi Gong umfasst viel mehr als nur Bewegungen, es ist eine Art zu leben und zu denken. Für mich steht immer die Verbindung Körper, Geist und Seele im Mittelpunkt. Eine Technik, die Ausdruck der Persönlichkeit ist, in der es kein Richtig oder Falsch gibt.
Dieser Gedanke ist Zentrum meines Lebens und Unterrichtens. Sollte es mir gelungen sein, auch nur einen kleinen Teil dieser Erkenntnis weitergegeben zu haben, so hat meine lange Reise Sinn gehabt.
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- Geschrieben von Heidi Sykora
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